Feuerspuren 2022. Es hieß Einsteigen - Umsteigen - Aussteigen. Und zurück auf die Straße! Foto: Jan Meier

Feuerspuren 2022 — Zurück auf der Straße 

Gäbe es einen Soundtrack zum Erzählfestival Feuerspuren, wäre in diesem Jahr der Westernhagen-Klassiker „Zurück auf die Straße“ sicherlich dabei. Denn riesengroß waren Freude und Erleichterung, dass nach zwei Jahren Pandemie das Erzählfestival endlich wieder dort stattfinden konnte, wo es hingehört: auf der Straße!  

 

 

Die Tanzperformance aus dem Bürgerhaus Oslebshausen eröffnet das Festival. Foto: Kerstin Rolfes

 

Entlang der gesamten Lindenhofstraße fand sich das Programm – drinnen wie draußen. Foto: Kerstin Rolfes

 

Penny Penski als Feuerwehrmann ist nicht wegzudenken von den Feuerspuren. Foto: Kerstin Rolfes

„Wir haben es gehofft, aber wussten nicht, ob nach zwei Jahren Einschränkung und weiterhin bestehender Corona-Ängste die Menschen zurückkommen,“ so Julia Klein, künstlerische Leiterin der Feuerspuren. Doch sie taten es, auf allen Ebenen als Erzähler:innen, Gastgeber:innen und Besucher:innen.  

Die Engel sorgen seit Anbeginn der Feuerspuren für gute Laune auf der Straße. In diesem Jahr mit eigens für den Auftritt neu genähten Gewändern. Foto: Marianne Menke

„Über den Tag verteilt waren sehr viele Menschen aus Gröpelingen unterwegs, besonders viele Kinder, aber auch Zugereiste, die die extra zum Erzählfestival kamen. Die Stimmung war bestens, friedlich, aufgeschlossen, überall glückliche Gesichter und ein Hochgefühl, wir sind wieder da in alter Form.“  

 

„Das Festival lebt von der Resonanz.“ Julia Klein, künstlerische Leitung 

 

Schätzungsweise 5.000 Besucher:innen kamen am Sonntag, den 6. November 2022 in die Lindenhofstraße zum Erzählfestival. Am Abend zuvor war die Lange Nacht des Erzählens auf Reisen als Stadtteilexpedition schon lange vor Veranstaltung ausverkauft.

Mit Silent Disko Kopfhörern ging die Lange Nacht des Erzählens auf Reisen. Foto: Marianne Menke

 

Ein Kurztrip mit der Straßenbahn gab es bei der Langen Nacht passend zum Thema. Foto: Julian Elbers

 

Am Sonntag gab es neben verkaufsoffenen Geschäften ein Programm mit Lichtobjekten, kulinarischen Angeboten, Feuer-Shows, Tanzeinlagen, Straßenjonglage, Musik und zum Abschluss einen gemeinsamen Lichterumzug.

 

Marktstand der Sozialen Manufakturen. Foto: Kerstin Rolfes

 

 

Klimageschichten und Experimente für Kinder vom Alfred-Wegener-Institut gab es in den Räumen der evangelischen Gemeinde. Foto: Kerstin Rolfes

 

Aber vor allem wurde erzählt. Insgesamt füllten an die 100 Erzähler:innen 18 Erzählorte über 21 Stunden mit ihren Geschichten. Ob in umgeräumten Geschäften, eigens dafür aufgebauten Jurten, Fahrzeugen, Zelten, Gebetsräumen oder einfach auf der Straße.  

 

„Vom Kommen und Bleiben“ handelte die zweisprachige Geschichte von Alaa Alashraf & Karin Lion im Weinfachgeschäft camVino. Foto: Marianne Menke

 

„Das Festival ist unprofessionell— im besten Sinne“ Henning, Besucher 

 

Klingende Sprachpoesie auf Deutsch und Französisch gibt es zum Takt der Wäschetrockner von Ela Fischer. Foto: Jan Meier

 

Bea Tilanus, selbst Müllerin erzählt auf Niederländisch und Deutsch von der Müllerin und dem Mühlengeist in der Erzähljurte am Bilbiotheksplatz. Foto: Marianne Menke

 

Zwischen zwei Erzählsets treffe ich Stefanie und Henning aus Wüstingen, die sich extra mit Freunden aus Huckelriede verabredet haben, um die Feuerspuren und auch Gröpelingen zu besuchen. Bei Tee und Waffeln checken sie nochmal mit dem Handy, welche Erzählstation als nächste auf ihrem Programm steht. Die Neustädter sind zum ersten Mal in Gröpelingen:

 

„Es gefällt uns. Das Festival ist so unprofessionell, im positiven Sinne, also self-made. Man sieht, wie viel Fantasie und Kreativität überall drinsteckt und hat den Eindruck jede:r im Stadtteil ist in irgendeiner Form beteiligt.“  

 

Eltern und Kinder aus dem Kinderatelier Roter Hahn liefen als Konvoi mit selbstgebauten „Gröpomobilen“ die Lindenhofstraße auf und ab. Foto: Marianne Menke

 

Die Gröpomobile sind auch beim Laternenumzug dabei. Foto: Kerstin Rolfes

 

Ihr Blick bleibt an einer kleinen Karawane hängen, der sich ihren Weg durch die Lindenhofstraße bahnt. Gröpelinger Kinder bauten in den Herbstferien mobile Lichtobjekte bzw. illuminierte Fahrgestelle. Angeführt von einer überdimensionalen Leuchtschnecke werden diese nun im Konvoi durch die Menschenmenge bewegt.  

 

Jedes Jahr wird das Laternen-Taxi thematisch für das Festival neugestaltet. In diesem Jahr wurde es zur riesigen Leuchtschnecke umgewandelt. Foto: Marianne Menke

 

Das Laternen-Taxi kutschierte die Kleinsten Festivalbesucher:innen über den Bibliotheksplatz. Es gab sogar eine Haltestelle. Foto: Marianne Menke

 

 

Über dem Eingang der Mevlana-Moschee flackert ein LED-Laufband und wirbt für das Erzählfestival. Auch hier wird heute erzählt. Dazwischen für das Gebet pausiert. Im Vorraum der Moschee gluckert Tee im Samowar, auf den Tischen steht Weihnachtsgebäck. Die Besucher:innen ziehen ihre Straßenschuhe aus und betreten neugierig den Gebetsraum. Dicke, hellblaue Teppiche schlucken den Straßenlärm und sorgen für eine wohlige Atmosphäre.  

 

„Zufälle verändern das Leben“ Meral, Erzählerin 

 

Meral Özkan-Dogmus erzählt in der Mervlana Moschee. Foto: Jan Meyer

 

In der Raummitte steht Meral Özkan-Dogmus und erzählt die Geschichte von Gleis 11, dem Synonym für Umverteilung türkischer „Gastarbeiter“ am Münchner Hauptbahnhof. Dort endeten die Züge der Arbeitsmigrant:innen aus Istanbul. Von hier ging weiter mit Nahverkehrszügen zu den Einsatzorten. Aussteigen, Einsteigen, Umsteigen.

 

Die Geschichte von Gleis 11 im Münchener Hauptbahnhof. Foto: Jan Meyer

 

Es beginnt eine Reise durch die Zeit, zusammengesetzt aus Anekdoten, die im Familienkreis bewahrt wurden, „denn die Wertschätzung fehlt bis heute“, Zufälle, die nach Bremen führten und aus einem zweijährigen Arbeitsvertrag über 30 Jahre machten. Etwas abseits sitzt eine Frau, die aufmerksam die Reaktionen des Publikums beobachtet und der Erzählerin sehr ähnlich sieht. Meral ist ihre Tochter. „Das ist die Geschichte unserer Familie,“ sagt sie stolz. 

 

„Vielleicht habe ich rechts und links mal was liegen lassen, aber es war gut.“ Paressa, Erzähl-Debütantin 

 

Paressa Daniilidou erzählt im Borgwardbus ihre Geschichte „16 Uhr 55 ab Subotica oder wenn ein Grenzbeamter die Fassung verliert“. Foto: Jan Meyer

Eine Fahrt durch Europa, die jedoch abrupt an einer Grenze zum Stehen kommt, beschreibt Paressa Daniilidou, die in diesem Jahr ihr Erzähldebüt gibt. Ihre Bühne ist ein 50er-Jahre-Borgward-Bus, den Erhard Flemming von der BSAG liebevoll illuminiert und mitten auf der Lindenhofstraße geparkt hat.

 

Erhard und Gonda Flemming unterstützen das Festival liebevoll als Gastgeber:innen. Foto: Kerstin Rolfes

Die wenigen Sitzplätze sind rasch belegt. Und während sich draußen der Geruch von Grillfleisch und Schmalzkuchen mit dem Kerosin der Feuershows mischt, nimmt uns die Erzählerin mit auf eine multilinguale Zug- und Zeitreise voller Melancholie und überraschender Begegnungen.  

 

Eine Fahrt durch Europa, die abrupt zum Stehen kommt. Foto: Jan Meyer

 

 

Nicht alle Geschichten handeln vom realen Unterwegssein. Das Thema Einsteigen-Aussteigen-Umsteigen bietet viele Möglichkeiten. So wie die einer Klimaparabel, die Uli Wischnath vom Verein climactivity im Laden von EP:Friese erzählt.

 

Uli F. Wischnath inmitten der Bildschirme von EP:Friese. Foto: Kerstin Rolfes

 

Umrahmt von schicken High-Tech-Bildschirmen beschreibt er das Dilemma einer Durchschnittsfamilie, die nach einem Blick in die Zukunft ihr Leben von jetzt auf gleich klimafreundlich gestalten muss. Wer ändert was und wer bekommt das Freilos, den Joker? Während ein familieninterner Emissionshandel ausbricht, dreht im Schaufenster die Mini-Modelleisenbahn stoisch ihre Runden.  

 

Das Elektrofachgeschäft EP:Friese hatte während des verkaufsoffenen Sonntag von 13 – 18 Uhr geöffnet. Ab 15:30 Uhr diente das Geschäft auch als Erzählstation. Foto: Kerstin Rolfes

 

In der Stadtbibliothek West wurden Gischichten aus der Bildungslandschaft Gröpelingen präsentiert. Die Bibliothek wurde zum Erzählort für Eltern und Kinder. „Post vom Löwen“ gab es mit Sandra Saupe & Kadie Bundu von der Kita St. Nikolaus. Foto: Marianne Menke

 

Damit dies alles so klappt, haben die Teams von Kultur Vor Ort und dem Bürgerhaus Oslebshausen über Tage hinweg Schwerstarbeit geleistet. Insgesamt mussten 18 Erzählorte und vier Bühnen an unterschiedlichen Locations im Stadtteil aufgebaut und ausgestattet werden mit Beleuchtung, Technik, Programmen ganz nach den unterschiedlichen Bedürfnissen der Erzähler:innen und Feuer-Akrobat:innen.

 

Martin Ellrodt stellt das asiatisch-europäische Erzählprojekt „Once Upon a Tomorrow“ im Nagelstudio vor – auf Deutsch und auf Englisch. Foto: Jan Meier

 

Und auch die bestens besuchten Gastro-Stände benötigen Strom- und Wasseranschlüsse. Von der Ausschmückung des Areals mit Lichtobjekten bis hin zur temporären Sperrung der Lindenhofstraße für den Autoverkehr galt es dabei unzählige Dinge im Blick zu behalten. 

 

Der Laternenumzug ist fester Bestandteil des Festivals. Diesmal ging es vom Werftarbeiter bis zum Bibliotheksplatz. Vorneweg die Sambagruppe Monte Monja. Foto: Jan Meier

 

Und als gegen Abend das Durchkommen für Passant:innen zunehmend schwieriger wurde, setzte sich mit Samba-Unterstützung der traditionelle Lichterumzug in Bewegung. Die Keimzelle des Festivals bildete sozusagen den Schlusspunkt.  

 

Feuer­-Akrobat:innen der Gruppen Lenn Fei (Bremen), Element of Firedance (Augsburg), Inlight Firedanceshow (München), Flamba (Hamburg), Loooop und Oh Wow! Shows (Berlin) zeigten auf vier Bühnen ihre Künste. Eine fulminante Show auf dem Bibliotheksplatz bildete den Abschluss vom  Feuerspuren Festival 2022.

 

„Gröpelingen strahlt mich an. Alle haben andere, aber tolle Feuerspuren erlebt.“ Christiane, Kultur Vor Ort 

 

 

Berichten muss ich zum Schluss noch von den Schüler:innen der Vorklassen der Gesamtschule West und Oslebshausen. Sie kommen von überall her, aus der Ukraine, Syrien, Somalia. Einige sind erst seit wenigen Monaten in Deutschland.

 

Kommen Sie, hören Sie, schmecken Sie, shen Sie: Kamishibai! Foto: Marianne Menke

 

Die Konsonantenkombinationen des Deutschen türmen sich vor ihnen wie das Atlasgebirge und doch stehen sie heute auf dem Bibliotheksplatz und performen zusammen eine Geschichte:  

 

„Kamishibai. Der Feuervogel. Seine Federn leuchten wie Flammen. Er macht die Augen auf. Die Stadt ist voller Lichter und Farben, Musik und Geschichten. Die Menschen auf den Straßen feiern ein Fest. Sie lachen, tanzen und erzählen einander in hundert Sprachen. Er macht die Augen zu.“ 

 

Text: Eva Determann