Elettra Bargiacchi und Julia Klein. Foto: Stefano Pradoni

Begeisternder Auftakt der Feuerspuren 2019: Die Lange Nacht des Erzählens im Lichthaus

Bei restlos ausverkauftem Saal starteten am Samstagabend die FEUERSPUREN mit der “Langen Nacht des Erzählens” im Lichthaus. Bereits eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn sind alle Plätze belegt. Internationales Stimmengewirr erfüllt den Raum, legt sich aber schlagartig, als Elettra Bargiacchi mit orientalische Gitarrenklängen in den Abend einstimmt. Zusammen mit Erzählpartnerin Carmela Marinelli bilden die  beiden ein von den Temperamenten höchst unterschiedliches Duo geballter Frauenpower.

Elettra Bargiacchi und Carmela Maria Marinelli. Foto: Stefano Pradoni

Bargiacchis exakt abgestimmte, fast reduzierte Gitarrenbegleitung lässt den expressiven Stil von Erzählerin Marinelli noch mehr funkeln. Umgehend findet man sich inmitten einer italienischen Familie beim Strandausflug oder im Krämerladen von Natale wieder. Und spätenstens bei der Beschreibung von Mamas Picknickkorb hat man vergessen, dass man eigentlich gar kein Italienisch spricht. Die sizilianische Sonne und das Meer sind auch Stoff für Mythen wie der des Jungen Cola, den die Liebe zum Wasser in ein Fischwesen verwandelt. In einer zweiten Geschichte verbindet Marinelli ihr mittlerweile 14-jähriges freiwilliges Leipziger Exil geschickt mit der Saga des blauen Vogels, der mit vielen anderen die Heimat verlässt und sich selber erkennt. Auch hier bilden die klangvollen Lebensmittel eine Art Nabelschnur zur Küche der Mutter und der Kindheit.

Ela Fischer. Foto: Stefano Pradoni

Reisen und Verwandlungen im und aus dem eigenen Leben sind auch Thema von Ela Fischer, die sich selber als zartbitterer Mix in einem russischer Zupfkuchen beschreibt. Geboren im Senegal hat es sie auf persönlichen Feuerspuren ins niedersächsische Martfeld verschlagen. Feuerspuren haben auch immer mit verbrannter Erde zu tun. Ihr Singer-Songwriter Talent stellt sie mit eigenen Kompositionen auf Deusch eindrucksvoll unter Beweis – dabei wurde sie nur zum Klavierunterricht geschickt, um ihren Eltern mal etwas Ruhe zu gönnen.

Mohammed Kello und Annika Füser. Foto: Stefano Pradoni

Ungewöhnlich aktuell erscheint die uralte kurdische Saga aus der Region Afrin in Syrien. Der Schauspieler und Übersetzer Mohammed Kello erzählt im Tandem mit Annika Füser die Geschichte des Mädchen Sinam wehrt sich gegen Männergewalt, Krieg und Hinterlist, indem sie Tiergestalten annimmt und – im Gegensatz zu Schneewittchen – überlebt und sich schließlich selbst befreit. Die von Kellos Großmutter überlieferte Saga erhält durch jede Menge Komik und bewusste zeitgenössische Anleihen einen aktuellen Anstrich. Kello und Füser sprechen mit konträren Stimmen auf deutsch, kurdisch und arabisch zeitversetzt, miteinander, manchmal gegeneinander, was ihren Geschichten zusätzliche Spannungsmomente verleiht. In einem zweiten Märchen aus Palästiana muss eine Prinzessin die Sonne vom Himmel in den Palast holen, eine Aufgabe, die sie mit überraschendem Ende löst.

Zwischen den Acts führt Julia Klein als künstlerische Leiterin des Erzählfestivals FEUERSPUREN das Publikum durch das Programm. Dabei weiß sie die Einzelerzählungen immer wieder geschickt mit dem Motto “um die Ecke” zu verbinden. Sie selbst nimmt ihre Zuhörer*innen mit zurück nach Gröpelingen und erzählt, was es mit den räselhaften Gröpelstones auf sich hat: bemalte, runde Kiesel, die im Stadttteil versteckt sind und von denen der eintausendste einen Wunsch erfüllt. Doch was für ein Stress. Was sich unter Zeitdruck wünschen? Und für wen?

In einer zweiten Erzählungen entführt sie in das “Cafe Rosl”, wo Kaffee mit Sprühsahne als Cappuchino serviert wird. Der Laden läft eher schlecht als recht, bis eine rästelhafte Besucherin einen goldenen Kranich hinterlässt, der aus der Wand steigt und mit seinem Tanz alle verzaubert – bis … so viel sei nicht verraten. Als persönliche Glücksvögel sind einige Origami-Kraniche im Publikum versteckt und bilden eine Girlande aller Beteiligten der Feuerspuren. Als visuelles Highlight wird eine musikalisch untermalte Reise durch Gröpelingen mit Fotografien von Tom Kleiner zum Thema “Um die Ecke” präsentiert.
Nach zweieinhalb Stunden intensiver Performance feiert das Publikum alle Beteiligten mit  großem Applaus.

Julia Klein und Ela Fischer. Foto: Stefano Pradoni

Die Feuerspuren 2020 finden am 7. und 8.11.2020 statt. Karten für die Lange Nacht gibt es ab Ende September 2020 bei Kultur Vor Ort unter 0421-9899700 oder info@kultur-vor-ort.com im Vorverkauf.

Text: Eva Determann