09.11.20: Setzt ein Zeichen gegen rechte Hetze, Rassismus, Ausgrenzung

#gröpelliebe #unteilbar #gröpelingen

Stolpersteine 2020

Setzt ein Zeichen gegen Rassismus, Hass und Ausgrenzung

Gröpelingen erinnert an die Reichspogromnacht vor 82 Jahren*

*Am Abend des 9. November sind wie in jedem Jahr die Gröpelinger*innen aufgerufen, die Stolpersteine im Stadtteil zu reinigen, Blumen niederzulegen und Kerzen zu entzünden zur Erinnerung an die Reichspogromnacht vor 82 Jahren.

Zum Abschluss sollte es im Atelierhaus Roter Hahn ein gemeinsames Treffen geben.

Aufgrund der Covid-19-Situation ist die gemeinsame Veranstaltung abgesagt.

Der geplante Redebeitrag findet sich hier.   

 

Versagen der demokratischen Staaten

Im Laufe des Jahres 1938 stieg von Tag zu Tag die Zahl jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland. Viele Staaten schlossen ihre Grenzen, vor ausländischen Botschaften und Konsulaten bildeten sich lange Schlangen verzweifelter Jüdinnen und Juden. Flüchtlinge wurden an den Grenzen zurückgewiesen.

Der sogenannte Anschluss Österreichs an Nazideutschland am 13. März 1938 war für die demokratische Welt ein weiterer Schock: Die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung – im Deutschen Reich ein mehrjähriger, schleichender Prozess, – vollzog sich in Wien innerhalb von Tagen: Jüdische Bürger*innen mussten auf dem Boden knien und das Trottoir reinigen, sie wurden gedemütigt, verhöhnt, von entfesselten Nazianhängern gejagt, jüdische Geschäfte zerstört und geplündert.

Die dramatische Situation der deutschen und österreichischen Jüdinnen und Juden bewegte den amerikanischen Präsidenten Roosevelt, die Initiative zu einer internationalen Konferenz zu ergreifen. Mit Rücksicht auf Nazideutschland durfte die Konferenz nicht am Sitz des Völkerbundes in Genf stattfinden, sondern wurde in den kleinen Ort Évian verlegt. Hier trafen im Juli 1938 Vertreter:innen von 32 Staaten zusammen, um über die verzweifelte Lage der Flüchtlinge zu beraten.

Aber schon die Eingangsstatements zeigten, dass kein Staat gewillt war, seine Grenzen zu öffnen, um den Verfolgten Asyl zu gewähren. Die Konferenz wurde zu einem beschämenden Desaster. Ohne Ergebnisse verließen die Diplomaten die Schweiz und überließen die jüdische Bevölkerung schutzlos dem Zugriff des NS-Regimes.

 

Entfesselter Antisemitismus

Die NS-Regierung schlachtete das Scheitern der Konferenz für ihre antisemitische Propaganda aus: „Niemand will sie haben“, konnte man im „Völkischer Beobachter“ lesen und dieser schlussfolgerte, dass die Konferenz Vorsorge getroffen habe, „sich vor einem Zustrom jüdischer Einwanderer zu schützen, weil man die Nachteile einer Verjudung klar erkannt hat“.

Wenige Wochen später, am 9. November, hielt Propagandaminister Josef Goebbels beim „Kameradschaftsabend“ der NSDAP eine aggressive Rede, in der er Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung ausdrücklich befürwortete: „Die Partei hat solche Aktionen zwar nicht zu organisieren, aber sie dort, wo sie spontan entstehen, nicht zu verhindern.“

Das Gegenteil war der Fall: Die auf seine Rede folgenden Pogrome waren keine „spontane Aktion des Volkszorns“, wie es Goebbels gerne darstellte, sondern wurden von der SA im ganzen Reich organisiert. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zerstörten Schlägertrupps die Geschäfte jüdischer Bürgerinnen und Bürger und setzten Synagogen in Brand – allein in Bremen wurden in dieser Nacht fünf jüdische Bürger*innen ermordet, die Bewohner*innen des Jüdischen Altenheims an der Gröpelinger Heerstraße wurden auf die Straße getrieben und interniert.

Dieses Novemberpogrom markiert den Übergang zur offenen Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung. Wurden Jüdinnen und Juden zuvor systematisch diskriminiert, entrechtet und enteignet, so leitete dieses Pogrom die gewaltsame staatliche Verfolgung ein, die in die Shoah, die Vernichtung der europäischen Juden, mündete.

 

Der Mut der Einzelnen

Die neuste und vielleicht sogar kürzeste Straße Gröpelingens verbindet den Pastorenweg mit einem kleinen Neubaugebiet an der Grünen Dockstraße. Die Straße ist seit 2019 benannt nach Martha Heuer (1925-2004), einer Gröpelingerin, die in Gröpelingen und in Bremen kaum einer größeren Öffentlichkeit bekannt ist. Martha Heuer lebte als junges Mädchen mit ihrer Mutter Melida im von der deutschen Wehrmacht besetzten Warschau. Monatelang versteckten die Frauen sechs jüdische Bürgerinnen und Bürger und retteten sie so vor der Deputation in ein Vernichtungslager.

1942 wurde die SS auf die Wohnung aufmerksam, ein SS-Kommando zur Durchsuchung stand bereits vor der Wohnungstür. Nur das beherzte Auftreten der siebzehnjährigen Martha, die geschickt die SS-Leute um den Finger wickelte, verhinderte die Durchsuchung und rettete den Versteckten das Leben.

Martha heiratete später den Bremer Politiker Heinz Heuer und zog nach Gröpelingen. 1975 nahm die Gedenkstätte Yad Vashem in Israel Martha Heuer in die Liste der »Gerechten unter den Völkern« auf.

Für Martha Heuer war diese für sie selbst lebensgefährliche Aktion eine Selbstverständlichkeit, aus der sie auch nach dem Krieg keine große Sache machte. „Ich würde es immer wieder tun“ sagte sie bei der feierlichen Gedenkstunde in Yad Vashem.

Während die internationale Diplomatie vor dem entfesselten Antisemitismus Nazideutschlands zurückwich, waren es der Mut und die Entschlossenheit vieler Einzelner, die auf unterschiedlichen Wegen dem Naziregime und der Mehrheit der mitlaufenden Deutschen den Kampf ansagten.

 

Erinnern um zu handeln

Die Erinnerung an die Reichspogromnacht ist für uns in Gröpelingen alles andere als ein sentimentales Gedenken. Die STOLPERSTEINE geben den Opfern einen Namen. Indem wir uns gemeinsam treffen, die Stolpersteine säubern, Blumen und Kerzen niederlegen, erinnern wir uns an die in der NS-Zeit ermordeten Gröpelinger*innen. Der Jahrestag erinnert uns daran, dass ein ziviles Miteinander in einem Stadtteil wie Gröpelingen, in dem so viele verschiedenen Menschen zusammenleben, ein wertvolles, zerbrechliches Gut ist. Er erinnert uns daran, dass die von rechten Populisten und alten und neuen Rechten offen zur Schau getragene Verachtung der Offenen Gesellschaft unser Zusammenleben hier und jetzt bedroht.

Um diese offene Gesellschaft zu schützen und zu stärken, um aktuellen Antisemitismus, aber auch Verachtung und Verhöhnung von behinderten Menschen, von Schwulen und Lesben, von People of Color, Geflüchteten, Eingewanderten zu bekämpfen, bedarf es mehr als Erinnerung.

Wir benötigen im internationalen Stadtteil Gröpelingen mehr Aktivitäten, um junge Menschen für die Konflikte dieser Gesellschaft zu sensibilisieren. Wir benötigen mehr Aktivitäten, um junge Leute stark zu machen, sich gegen menschenfeindliches Reden und Tun zu Wehr zu setzen. Wir benötigen mehr politische Bildung für die unterschiedlichen Gruppen im Stadtteil. Wir benötigen in allen gesellschaftlichen Belangen mehr Beteiligungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten vor allem für diejenigen, die aufgrund von Sprache, Herkunft oder Aussehen diskriminiert werden oder einfach nur von sozialer und demokratischer Teilhabe weitgehend ausgeschlossen sind.

Solche Aktivitäten benötigen ein lebendiges, vielfältiges öffentliches Leben. Unter den anhaltenden Bedingungen der Pandemie ist dieses öffentliche Leben stark eingeschränkt. Für uns bedeutet dies, unsere Anstrengungen zu verstärken, aktiv im Stadtteil sichtbar zu bleiben, Netzwerke zu stärken, mit den Nachbarschaften im Kontakt zu bleiben, (digitale) Jugendbeteiligung zu ermöglichen.

Die Einschränkungen durch die Pandemie werden überall in Deutschland vor allem von alten und neuen Rechten genutzt, um gesellschaftlich an Boden zu gewinnen, Verschwörungserzählungen zu verbreiten, die Demokratie zu verhöhnen. Nazis, Reichsbürger und Rechtspopulisten hassen das Parlament als Sinnbild der offenen Gesellschaft. Deshalb blies am 29. August eine Reichsbürgerin anlässlich einer „Corona-Demo“ zum Sturm auf das Reichstagsgebäude in Berlin, dem Sitz des Bundestages. Ein Mob stürmte die Treppen. Es ging weniger um eine echte Parlamentsstürmung als vielmehr um die propagandaträchtigen Fotos, die seither triumphierend in den asozialen Medien kreisen. Schon Goebbels nannte das Parlament eine „Schwatzbude“. Die Verachtung der Demokratie ist der Treibstoff für den Terror der Rechtsradikalen, den wir aktuell erleben und der nicht vergeht.

Deshalb bedarf es einer Erinnerungskultur, die zum Handeln, zu Zivilcourage und Solidarität einlädt.

Lutz Liffers (Kultur Vor Ort)

 

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